Briefmarkensammeln: „Das ist ein so positives Hobby“
Ist Briefmarkensammeln ein Altherrenhobby? „Ja klar“, sagt der Vorsitzende des Vereins „Karlsruher Briefmarkensammler von 1892“ „Aber warum auch nicht? Auch 2019 hat das Briefmarkensammeln noch nichts von seiner Faszination verloren – zumindest für manche.
Die Briefmarkensammlung war Opas ganzer Stolz gewesen. Seine Enkel haben das Bild des alten Mannes im Strickpullunder noch klar vor Augen. Stundenlang saß er da. Vornübergebeugt am von der Oma murrend leer geräumten Esstisch, sortierte er seine Schätze.
Zwei Verlängerungskabel quer durchs ganze Wohnzimmer brauchte es, um die Leselampe neben ihm mit Strom zu versorgen. Manchmal kniff der Opa beim Blick durch die Lupe das eine Auge so fest zusammen, dass es später Minuten brauchte, bis sich die Falten ringsum wieder halbwegs geglättet hatten. Seine Briefmarken waren Opa heilig. „Wenn Ihr mal nix mehr habt“, deklamierte er, die Lupe schwingend, „dann habt Ihr immer noch die“. Ein trauriger Irrtum.
Besser keine Reichtümer erträumen
Seit Opa tot ist, fristet seine einst so liebevoll gehegte Sammlung ein tristes Dasein in einem Karton auf dem Dachboden einer alten Tante. Keiner kann sich erinnern, wann die klobigen Alben aus braunem und blauem Kunstleder zuletzt das Tageslicht gesehen haben. Und weil niemand in der Familie ernsthaft daran glaubt, dass die alten Marken überhaupt noch etwas wert sein könnten, streitet sich auch keiner um das Erbe.
Aus gutem Grund, wie Franz Lasetzky findet. „Es sind in den letzten Jahren so viele Sammlungen auf den Markt gekommen, dass man sich von ein paar geerbten Alben keine Reichtümer erträumen sollte“, sagt der Vorsitzende des Vereins „Karlsruher Briefmarkensammler von 1892“. Die Möglichkeit, dass sich unter Opas klebrigen Hinterlassenschaften eine Berühmtheit wie die Blaue Mauritius findet, sei zwar nicht ausgeschlossen, die Wahrscheinlichkeit jedoch sehr gering.
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Die Jahreszahl im Vereinsnamen verleiht den Karlsruher Briefmarkensammlern etwas Altehrwürdiges. Vor allem aber passt sie zum Bild, das man sich von ihnen macht. Männlich, weißhaarig, bebrillt. Auf Franz Lasetzky trifft nur Ersteres zu. Dass sein Hobby als altmodisch und spießig geschmäht wird, kann er verstehen. Ob er es ändern kann? Lasetzky weiß es nicht, aber er würde gern.
„Die Aktie des kleinen Mannes“
Denn es gibt Briefmarkensammler und es gibt Philatelisten. „Archivare und Sammler“, sagt er. Erstere häufen an, letztere „sammeln Geschichten“. Lasetzkys Verein wurde gegründet, 52 Jahre nachdem die erste Briefmarke der Welt in den Umlauf kam. Die schwarze „One Penny“ mit dem Konterfei der britischen Königin Victoria entfachte nach 1840 ein weltweites Sammelfieber.
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Infizierte organisierten sich und suchten nach Gleichgesinnten, mit denen sie Marken und Erfahrungen tauschen und mit denen sie ihrer gemeinsamen Leidenschaft frönen konnten. 100 Jahre lang musste sich dort niemand ernsthaft Sorgen um den Nachwuchs machen. Währenddessen wurden Kriege geführt und Weltreiche zerstört – das Sammeln von Briefmarken aber blieb.
In den 1960er Jahren avancierte die „Aktie des kleinen Mannes“ sogar zu einer ernst zu nehmenden Wertanlage. Ein riesiger Markt, auf dem allein in Deutschland dreistellige Millionenbeträge verschoben wurden. Am Ausgabetag der neuesten Exemplare bildeten sich an den Postschaltern der Republik lange Schlangen.
Wildblumen und Annemarie Renger, Dichter oder Deutsche Industriegüter – die Postwertzeichen der Nachkriegszeit vermittelten Stabilität und ein neues Selbstbewusstsein. Ausländische Marken mit exotischen Schriftzeichen und rätselhaften Motiven trugen zudem den Duft der großen weiten Welt ins heimische Wohnzimmer. „Für mich als Kind hatte das etwas Magisches“, erinnert sich Sammler Jaroslav Szpack.
Langsam aber sicher verschwindet die Briefmarke
Die bunten Mini-Kunstwerke faszinieren ihn bis heute. Beim Sammeln hat er sich längst spezialisiert. Wenn er sein Album mit den Postwertzeichen der Auslandspostämter und aus den ehemaligen Deutschen Kolonien zeigt, blitzt in seinen Augen kindliche Begeisterung. Dass es sein Hobby heute schwer hat, sieht der auf die 70 zugehende Mann auch. „Die Jugend hat andere Dinge, für die sie sich interessiert“, gibt er zu und seine Stimme klingt ein wenig traurig.
Snapchat, WhatsApp und E-Mails kommen nun mal ohne Postwertzeichen aus. Selbst die Schriftstücke, die noch auf dem klassischen Postweg transportiert werden, tragen nach Schätzungen des Bundes deutscher Philatelisten (BdPh) maximal noch zu fünf Prozent eine Briefmarke. Schwarz-weiße Barcodes und nüchterne Freistempler haben den Klebe-Kunstwerken den Platz auf den Umschlägen streitig gemacht.
Langsam aber sicher verschwindet die Briefmarke. Aus den Augen – aus dem Sinn. Das einstige Lieblingshobby der Deutschen ist ernsthaft vom Aussterben bedroht. Reinhard Küchler, Geschäftsführer vom BdPh schätzt die Zahl der Sammler hierzulande noch auf rund eine Million. Ein bisschen mehr, ein bisschen weniger vielleicht – keiner weiß genau, wie viele Menschen ihr Hobby lieber ganz privat pflegen.
Rückläufige Zahlen bei den Sammlern
Verlässliche Zahlen gibt es lediglich für die 28 000 Menschen, die 2018 in den 900 Vereinen der zwölf BdPH-Landesverbände organisiert waren. Zu den Hochzeiten unmittelbar nach der Deutschen Wiedervereinigung waren es mal 70 000. Die Zahlen für Baden-Württemberg sind ganz ähnlich: „Von 15 000 sind noch 6 000 übrig“, sagt Franz Lasetzky.
Ein sicheres Indiz für das zurückgehende Interesse an der Marke ist auch die schwindende Zahl von Händlern. Geschäfte für den Tausch von Marken und Münzen gab es früher überall. Heute sind sie selten geworden. „Viele gibt es gar nicht mehr, andere bieten ihre Dienste nur noch online an“, sagt Reinhard Küchler. Vom „Aussterben“ ihres Hobbys mögen Reinhard Küchler und Franz Lasetzky dennoch nichts hören. „Das Briefmarkensammeln ist immer noch eine sehr weit verbreitete Beschäftigung“, meint Küchler.
Die rückläufigen Mitgliederzahlen in den Vereinen drückten ohnehin eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen aus. „Heute mag sich keiner mehr verpflichten“, sagt er. Egal ob beim Sport oder beim Singen. „Alle Vereine haben Nachwuchsprobleme.“ Manchmal gibt es sogar Nachrichten, die den passionierten Sammler und Vereinsvorsitzenden Lasetzky hoffnungsvoll stimmen. „Letztes Jahr konnten wir neun neue Mitglieder begrüßen“, freut er sich. Ein wenig resigniert muss er allerdings hinzufügen, dass im selben Zeitraum auch neun Mitglieder starben.
Hoffnung bleibt
Trotzdem: Die Hoffnung, auch künftige Generationen für sein Hobby zu begeistern, mag er nicht aufgegeben. Große Tauschbörsen, wie die an diesem Wochenende in Sindelfingen, erfreuten sich immer noch großer Beliebtheit. „Da kommen auch viele Junge.“ Überhaupt sei die Nachwuchsförderung das A und O. Vom Kindergarten bis zum Gymnasium tun die „Karlsruher Briefmarkensammler von 1892“ einiges dafür.
Mindestens einmal im Monat packen sie ihre Alben zusammen, verstauen Kisten voll unabgelöster Briefmarken im Auto und stecken Pinzetten und Briefmarkenkataloge ein, um im Mehrgenerationenhaus am Ortsrand des Stutenseer Stadtteils Blankenloch auf Jugendfang zu gehen. Im kalten Neonlicht eines zweckmäßig eingerichteten Nebenraumes breiten die Männer ihre Schätze aus. „Wenn es gut läuft, kommen zehn Schüler vorbei“, sagt Sammler Rüdiger Hammer. An diesem Montag kommt einer.
Constantin ist zwölf. Wann immer er kann, stattet er den Briefmarkensammlern einen Besuch ab. Er weiß die Mühe zu schätzen, die sich die Männer machen. Ihre Alben liegen bereit. In liebevoller Kleinarbeit haben sie sich bemüht, jugendgerechte Seiten mit Comic- oder Tiermarken zu gestalten. Constantins Sammelleidenschaft ist noch jung. „Ich schaue nach Motiven“, sagt er. Sport und Tiere sind seine Themen. „So habe ich auch mal angefangen“, freut sich Hammer. „Alle haben so angefangen“, sagt Franz Lasetzky.
Ein Altherrenhobby?
Wenn es gut läuft, springt der Funke irgendwann über. Und wenn nicht? „Dann ist es halt so“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Wir können den Jugendlichen nichts Attraktives bieten. Wir können nur zeigen, wie interessant die Beschäftigung mit Briefmarken und der Philatelie sein kann.“ Reinhard Küchler vom BdPH ist überzeugt, dass es Sammler immer geben wird. „Auch weil es so ein positives Hobby ist. Weil es entspannt und man dabei abschalten kann.“
Franz Lasetzky kann das voll bestätigen. Ein Altherrenhobby? „Ja klar“, sagt er. „Aber warum auch nicht? Es muss ja auch noch Beschäftigungen für die geben, die mit 80 nicht mehr auf die Laufstrecke wollen.“